Der Fall Neruda: Kriminalroman (German Edition) by Roberto Ampuero

Der Fall Neruda: Kriminalroman (German Edition) by Roberto Ampuero

Autor:Roberto Ampuero [Ampuero, Roberto]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2014-12-20T16:00:00+00:00


33

»Wir sind mit der Genossin Valentina Altmann verabredet«, teilte Merluza dem Volkspolizisten mit, der aus einem gut zwischen den Birken getarnten Kontrollhäuschen auf den asphaltierten Weg getreten war. »Wir sind von der chilenischen Botschaft.«

Die Jugendhochschule Wilhelm Pieck lag im Nordosten von Berlin am Ufer des kleinen Bogensees. In der Nähe erstreckte sich die von Mauern umgebene Siedlung der Parteiführung der SED.

Nachdem sich die Schranke langsam gehoben hatte, fuhren sie auf einem Schotterweg weiter, der sich durch den schattigen Wald wand.

»Das war früher einmal Goebbels’ Sommerresidenz«, sagte Merluza. Hinter dichten Bäumen erkannte Cayetano die Umrisse eines Hauses mit Holzdach. »Nach dem Krieg gelangte es in die Hände der Sowjets, und die haben es der ostdeutschen Regierung übergeben. Anfangs diente es als Entnazifizierungszentrum, und seit dreißig Jahren gehört es der FDJ.«

Cayetano kam alles trostlos und verwaist vor. Es fiel ihm schwer nachzuvollziehen, warum Beatriz die vibrierende mexikanische Hauptstadt und das exotische, bunte Havanna verlassen hatte, um sich an diesem Ort niederzulassen.

»Jetzt ist es ein Kloster, in dem Marxismus-Leninismus gelehrt wird«, erzählte Merluza weiter. »Man sagt, die Stasi würde hier Ausländer anwerben. Die Kurse beginnen im September und dauern bis Juni. Im Sommer trifft man hier nur die Ausbilder und Übersetzer an, die in der Hochschule oder im nahe gelegenen Bernau wohnen.«

»Und die Mexikanerin, von der wir gesprochen haben?«

»Seien Sie nicht so ungeduldig. Die Genossen hier wissen bestimmt irgendwas.«

Er parkte den Wartburg neben einem verrosteten Wolga, dann gingen sie zu einem Platz, der von massiven zweistöckigen Gebäuden gesäumt war. An einer der Freitreppen, die zu den Häusern hinaufführten, erwartete sie Valentina, eine schlanke Frau mit spitzem Gesicht und blauen Augen. Merluza machte sie miteinander bekannt, dann betraten sie das Gebäude. Sie gingen einen langen Flur entlang und gelangten in ein großes, trostloses Restaurant mit imposanten Lampen aus Bronze.

»Ich warte draußen auf Sie«, sagte Merluza, bevor er sich diskret zurückzog.

»Fragen Sie mich alles, was Sie wollen«, forderte ihn Valentina auf und bestellte Tee für sie beide. »Falls ich Ihnen nicht weiterhelfen kann, gibt es im Sekretariat Leute, die schon ewig hier arbeiten und die Geschichte dieser Schule von vorne bis hinten kennen.«

Nachdem sie ihm erzählt hatte, sie sei darüber informiert, dass er im Auftrag eines Parteiführers der Unidad Popular hier sei, teilte sie ihm ohne große Umschweife mit, dass sie in der Fachhochschule leider niemanden mit dem Namen Beatriz Lederer kenne. Sie machte ihn darauf aufmerksam, dass seine Nachforschungen ziemlich kompliziert werden würden, da man an dieser Schule Pseudonyme benutze. Als Cayetano ihr das Foto von Beatriz zeigte, versicherte sie ihm, die Frau noch nie gesehen zu haben. Der Tee kam aus der Sowjetunion, und auf den Rändern ihrer Gläser steckten Zitronenscheiben. Sie tranken schweigend. Cayetano befürchtete, die »Staatsräson« würde seine Unternehmungen vielleicht blockieren. In diesem Fall könnte Neruda auch nicht mehr helfen, es sei denn, er würde das wahre Motiv seiner Nachforschungen enthüllen.

Er fühlte sich deprimiert. Nicht nur wegen des bitteren Tees, sondern auch, weil er sich an Maigret erinnerte, den er um sein Vertrauen in das eigene Talent, seine Erfahrung und Geschicklichkeit beneidete.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.